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Häusliche Gewalt: Präventions- und Quartiersarbeit ausbauen

Quartiersarbeit ausbauen, mehr digitale und niedrigschwellige Angebote, und vor allem mehr finanzielle Mittel für die sozialen Dienste: Um häusliche und sexualisierte Gewalt wirksam zu bekämpfen, ist auch im Rhein-Sieg-Kreis noch viel Luft nach oben. Da waren sich die TeilnehmerInnen der Diskussionsrunde im „Facebook live“ der SPD-Kreistagsfraktion einig.

Die seit über einem Jahr anhaltende Corona-Pandemie hat zu starken Einschränkungen in unser aller Leben geführt: Homeschooling, Kontaktbeschränkungen, Kurzarbeit und Quarantänephasen gehen an einer Gesellschaft und jedem Einzelnen nicht spurlos vorüber. Eine nicht ganz unerwartete Folge des Lebens im Lockdown ist die Zunahme häuslicher und auch sexualisierter Gewalt an Frauen und Kindern. Als SPD-Kreistagsfraktion haben wir daher Expertinnen und Experten aus dem Kreisgebiet zur Diskussion eingeladen, um zu erfahren, wie sie in ihrer täglichen Arbeit die Auswirkungen der Pandemie auf Familien und auf die Zunahme von Gewalt erlebt haben. Im digitalen Panel haben Sibylle Friedhofen (Vorsitzende des Kinderschutzbundes in Sankt Augustin), Ali Dogan (Sozialdezernent und Erster Beigeordneter Sankt Augustin) Petra Uertz (Vorsitzende des Sozialdiensts katholischer Frauen Bonn Rhein Sieg) sowie für die Kreistagsfraktion Katja Ruiters (gesundheitspolitische Sprecherin) und Anna Peters teilgenommen (sozialpolitische Sprecherin), die das Format auch moderiert hat.

Häusliche Gewalt: digitale, niedrigschwellige Angebote werden stärker genutzt

Petra Uertz berichtete für den SkF, dass die Erreichbarkeit durch die Corona-Maßnahmen zwar erschwert wurde, die Präventionsarbeit ihres Sozialdiensts aber auch während des Lockdowns weiterlief, wodurch vieles aufgefangen werden konnte bei den Familien, mit denen der SkF bereits vor der Pandemie zusammengearbeitet hat. Anders sieht es bei Frauen und Familien aus, die erst während der Pandemie Unterstützung benötigten: „Gewaltopfer haben aufgrund der Pandemie große Hürden, sich bei uns zu melden. Wir gehen davon aus, dass sie dies nach der Pandemie machen und die Zahlen dann entsprechend steigen“, so Uertz.

Während Corona ist die Bedeutung digitaler und niedrigschwelliger Kommunikationswege deutlich gestiegen – auch im sozialen Bereich. „Unsere bundesweite Plattform gewaltlos.de wurde um 26% stärker nachgefragt als vor Corona. Die Möglichkeit, von Zuhause diskret mit uns zu chatten, haben viele Frauen wahrgenommen. Das ist auch viel einfacher, weil betroffene Mütter dafür nicht das Haus verlassen oder telefonieren müssen“, erklärte Uertz.

Der Kinderschutzbund Sankt Augustin, der selbst drei Kitas betreibt, konnte Verhaltensänderungen bei den Kita-Kindern feststellen. „Die Veränderungen Zuhause, aber auch die neuen Regeln in der Kita, das mehr an Distanz und Abstand haben Spuren bei den Kindern hinterlassen. Die einen reagieren darauf mit Wut und Aggression, andere ziehen sich in ihr Schneckenhaus zurück“, beschrieb Sibylle Friedhofen ihre Erfahrungen aus dem Corona-Jahr. „Wir haben viele unserer Angebote digital umgestellt oder neue kreative Wege gefunden, um im Austausch mit den Familien zu bleiben, das hat bei uns gut funktioniert.“

Ali Dogan, Sozialdezernent: „Lebensqualität der Kinder deutlich gesunken“

„Die Lebensqualität der Kinder ist während Corona deutlich gesunken. Wir beobachten mehr psychische Auffälligkeiten bei Kindern. Räumliche Enge, Angstzustände, psychische Zustände, wirtschaftliche Unsicherheit, familiäre Aggressionen durch die vermehrte gemeinsame Zeit sind Stressoren, die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Kinder haben“, berichtete der Sankt Augustiner Sozialdezernent Ali Dogan.

Ein mehr an häuslicher und sexueller Gewalt kann Dogan an den offiziellen Zahlen für seine Stadt aber noch nicht festmachen: „In Sankt Augustin können wir noch nicht konstatieren, dass die Zahlen häuslicher Gewalt im Hellfeld zugenommen haben, also was die bekannten Zahlen angeht. Meine These: Wir sehen erst die psychischen Auswirkungen und dann erst nachgelagert die Zahlen häuslicher Gewalt statistisch in die Höhe schießen.“

Petra Uertz, Vorsitzende SkF: „Gewaltschutz sollte Pflichtleistung werden“

Auf die Frage, wie häuslicher Gewalt präventiv besser begegnet werden kann, und was Politik dabei leisten muss, haben alle drei ExpertInnen klare Vorstellungen:

Für Ali Dogan sind niedrigschwellige Angebote in sozialen Quartieren wichtig für eine bessere Gewaltprävention: „In jedem Quartier braucht es einen Ansprechpartner für die Belange der Menschen vor Ort. Die meisten gehen nicht zum Rathaus, die brauchen jemanden vor Ort, der das Wording der Menschen kennt und spricht. Mein Plädoyer lautet daher, die Präventions- und Quartiersarbeit auszubauen.“

„Gewaltschutz sollte Pflichtleistung und Regelleistung werden“, fordert SkF-Vorsitzende Petra Uertz und ergänzt „Hier im Rhein-Sieg-Kreis fehlt zudem ein weiteres Frauenhaus aus Sicht des SkF.“ Außerdem plädiert sie für mehr digitale Angebote: „Das Hilfetelefon und Sorgentelefon waren mal modern, aber heute müssen wir darauf achten, die Kommunikationswege zu wählen, die die jungen Frauen und die Jugendlichen nutzen. Die müssen wir übers Smartphone abholen.“

Sibylle Friedhofen, Vorsitzende Kinderschutzbund: „Soziale Arbeit braucht mehr Fachlichkeit und mehr Geld“

Auch Sibylle Friedhofen kritisiert die fehlende finanzielle Ausstattung der Träger sozialer Dienste: „Die Politik muss dafür sorgen, dass mehr Mittel in die Prävention gesteckt werden. Soziale Arbeit braucht mehr Fachlichkeit, mehr Stellen und daher mehr Geld. Wenn wir wirklich etwas verändern wollen, müssen wir da ansetzen.“

Ali Dogan ergänzt abschließend die Forderungen an die Politik: „An den Schulen brauchen wir wieder mehr Vertrauenslehrer, die schauen, wie sich Kinder entwickeln und auch präventiv arbeiten. Außerdem müssen digitale Angebote zur Prävention nicht nur ausgebaut, sondern auch dauerhaft finanziert werden.“